Die aktuellen geopolitischen Spannungen zwischen den USA und China sowie mit Russland, ausgelöst durch den russischen Angriffskrieg in der Ukraine stellen die NATO-Mitgliedsstaaten vor große strategische Herausforderungen. Vielleicht steckt darin aber auch das Potenzial für neue Kooperationen, wie zum Beispiel mit Indien. Zeit hierauf einen genaueren Blick zu werfen.
Eine Kooperation zwischen der NATO und Indien wäre von strategischer Relevanz, wenn man sich die aktuell von der NATO als strategische Herausforderungen oder auch Bedrohungen identifizierten Themen vor Augen führt: den Klimawandel,
Hackerattacken im Cyberspace, internationale Krisenprävention und Krisenmanagement, Sicherung kritischer Infrastrukturen und China als strategische Herausforderungen sowie Russland als Bedrohung – ausgelöst durch den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine.
„Alle diese Themen sind auch für das seit Kurzem bevölkerungsreichste Land der Erde von strategischer Bedeutung“, konstatieren für den Landesfachausschuss Außen-, Sicherheits-, Europa- und Entwicklungspolitik Marcus Tandecki sowie Tobias Lücke, „gleichwohl Russland für Indien ein geopolitisches Dilemma bedeutet. Zum einem spürt Indien den internationalen Druck durch eine globale Mehrheit von Staaten, insbesondere den Staaten, die auch Mitglieder der NATO sind, die darauf drängen, das Verhalten Russlands öffentlich zu verurteilen und sich den Sanktionen gegen Russland anzuschließen. Zum anderen bestehen seit der indischen Staatsgründung intensive bilaterale Beziehungen mit Russland.“, so Marcus Tandecki und Tobias Lücke weiter. Viele Inder sind mit den indisch-russischen (ehemals sowjetischen) Beziehungen aufgewachsen. Russland ist nicht nur ein wichtiger wirtschaftlicher Partner, sondern war bisher auch der wichtigste Waffenlieferant. Gründe die einer Distanzierung von Russland bisher im Weg stehen. Doch sollte Indien die einseitige Abhängigkeit von seinem primären Waffenlieferanten kritisch auf den Prüfstand stellen. Indien kann bereits jetzt die Folgen dieser Abhängigkeit spüren. Die russische Rüstungsindustrie dient aktuell primär der Nachschubversorgung der russischen Streitkräfte. Diese ist nicht nur durch die bestehenden Sanktionen, die den russischen Import von u.a. moderner Elektrotechnik unterbinden, maximal erschwert. Man kann davon ausgehen, dass in einem solchen Rahmen indische Rüstungsaufträge für Neubeschaffungen oder Instandsetzungen in der russischen Allokation der überhaupt produzierbaren Rüstungsgüter hinten runterfallen. Ein in die Zukunft gerichtetes und für Indien schwer zu kalkulierendes Risiko ist die Versorgung mit russischen Waffen im Falle einer Konflikteskalation mit China. Russlands Krieg gegen die Ukraine und die daraufhin erlassenen Sanktionen haben Russland wirtschaftlich stark von China abhängig gemacht. Eine Abhängigkeit, die für Indien ein ernstes Risiko bedeuten kann.
Während China für die NATO eine strategische Herausforderung darstellt, ist China neben Pakistan für Indien die größte direkte Bedrohung. Eine chinesische Bedrohung, die für Indien nicht auf strategischen Annahmen basiert, sondern auf konkreten Ereignissen. So kam es nach dem mehrwöchigen Krieg zwischen Indien und China an der 3.500 km langen gemeinsamen Grenzen 1962 immer wieder zu tödlichen Auseinandersetzungen um den Grenzverlauf und gegenseitige Gebietsansprüche. Zuletzt kam es Mitte 2020 zu einer direkten Auseinandersetzung, bei der 20 indische Soldaten und eine unbekannte Anzahl chinesischer Soldaten getötet wurden. Ebenso fühlt sich Indien unmittelbar durch die zunehmende Dominanz Chinas im Indopazifik bedroht. Für Indien ist diese Region von strategischer Bedeutung. Nicht zuletzt, weil Indien Anrainerstaat mit 7.500 km Küstenlinie ist und für seine Teilnahme am globalen Handel auf frei zugängliche und schiffbare Seewege angewiesen ist. Indien hat daher ein starkes Interesse an einer regelbasierten Ordnung in der Region. Eine Ordnung, die es durch das Agieren Chinas in der Region, beispielhaft sei der chinesische Dominanzanspruch im südchinesischen Meer genannt, gefährdet sieht.
Doch zurück zum Kooperationspotenzial zwischen Indien und der NATO. Die jeweilige sicherheitspolitische Betrachtung Chinas zeigt eine relevante Schnittmenge von Interessen und bietet Kooperationsmöglichkeiten. Das übereinstimmende Verständnis über die Bedeutung frei zugänglicher und schiffbarer Seewege im Indopazifik, insbesondere durch das Ablehnen der nach internationalem Recht widerrechtlichen chinesischen Gebietsansprüche im südchinesischen Meer, bietet eine geeignete Möglichkeit zu einer Vertiefung der Kooperation zwischen Indien und der NATO.
Die gemeinsamen Vorteile liegen auf der Hand: Indien sieht sich der Gefahr ausgesetzt, im Zweifel mit Chinas Dominanzansprüchen alleine zurechtkommen zu müssen und dürfte durch die gegenwärtig erkannten Gefahren einer Abhängigkeit von russischer Militärtechnik offen sein für Kooperationen mit den USA oder den europäischen Staaten im Bereich der Rüstungsgüter. Für die NATO-Mitgliedsstaaten dominieren dabei ebenfalls die Vorteile. So könnten die USA als Pazifik-Anrainer gemeinsam mit den strategischen Partnern Japan, Südkorea und Australien in der Region mit Indien – gemessen an wirtschaftlicher, demografischer und militärischer Größe – einen starken Partner in der Region an ihre Seite holen. Für die europäischen NATO-Mitgliedsstaaten, die in der Indopazifik-Region als Nicht-Anrainerstaaten nicht direkt betroffen sind, aber durch die Auswirkungen, die die chinesischen hegemonialen Ansprüche in der Region bereits jetzt haben und bei einer Konfliktverschärfung bspw. auf den globalen Handel hätten, würden ebenfalls von einem weiteren Gegengewicht zu China in der Region profitieren.
Die Ziele einer Vertiefung der Kooperation zwischen Indien und der NATO sollten dabei niedrigschwellig und ausbaufähig gesetzt werden. Unrealistisch wäre ein gemeinsames Militärbündnis mit gegenseitigen Beistandszusicherungen. Darum muss es auch gar nicht gehen. Anbieten für eine Zusammenarbeit würden sich mehrere realistische Felder, wie bspw. der Austausch geheimdienstlicher Informationen, gemeinsame Marinemanöver, gemeinsame Fahrten von Marineschiffen zur Durchsetzung von frei zugänglichen und schiffbaren Seewegen und eine Etablierung eines regelmäßigen Dialoges zwischen NATO und Indien.
Marcus Tandecki und Tobias Lücke dazu: „Abschließend kann man festhalten, dass es sicherheitspolitisch nicht bei allen Themen übereinstimmende Interessen zwischen den NATO-Mitgliedsstaaten und Indien geben wird, aber das Beispiel China zeigt, dass es gemeinsame Interessen gibt, auf deren Grundlage eine strategische Entwicklung konkreter Kooperationsfelder möglich wäre.“ Allein die zahlenmäßige Dimension im Verhältnis zur Welt, die zusammengefasst die NATO-Mitgliedsstaaten und Indien bezogen auf Bevölkerung, Wirtschaft und Militär haben, sollte für alle Beteiligten die Motivation hierzu sein.
Autor: Tobias Lücke